Narzissten sind Kinder des Zeitgeistes

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Der Narzissmus ist zur psychischen Volkskrankheit geworden. Narzissten haben Gott verdrängt, um seinen Thron zu besteigen. In Wirklichkeit aber verhalten sie sich wie erwachsene Säuglinge. Es handelt sich um eine seelische Erkrankung des Herzens. Doch nicht nur Einzelpersonen sind von Narzissmus betroffen. Der moderne Zeitgeist an sich hat narzisstische Züge, die auf den einzelnen Menschen abfärben.

Narzissten sind große Babies

Ein schöner Jüngling namens Narziss verliebte sich einst an einer Quelle in sein eigenes Spiegelbild. So verzweifelt war er, sein Spiegelbild zu erreichen, dass Tränen ins Wasser vielen und das Bild verschwand. Er starb vor Liebeskummer und an der Stelle seines Todes blühten Narzissen.

Dieser griechische Mythos gab dem Narzissmus seinen Namen. Der Narzissmus ist eine seelische Erkrankung des „Herzens“. Er schränkt die Fähigkeit zu lieben ein. Der Narzisst bewundert nichts außer sich selbst.

Das ist das wesentliche Kriterium, das einen Menschen zum Narzissten macht: Wenn jemand nicht von einer Sache, einer Erkenntnis oder einem anderen Menschen fasziniert ist, sondern nur von sich selbst. Freud attestierte dem Säugling Narzissmus. Dass ein Kind nur essen, trinken und schlafen möchte, nannte er „primärer Narzissmus“. Erst allmählich erkennt das Kind, dass die Mutterbrust eigentlich zu einem Menschen, nämlich der Mama, gehört. So kommt es erstmals zu einer Beziehung mit einem Gegenüber. Idealerweise erweitert das Kind schrittweise seine Beziehungen. Es lernt, den Vater, die Geschwister und Freunde zu lieben.

Bie Freud ist die „Libido“ die Energie des Begehrens. Die Situation, wo ein erwachsener Mensch seine Libido nicht auf andere, sondern nur auf sich selbst richtet, nannte Freud „sekundärer Narzissmus“. Bereits Augustinus beschrieb dieses Phänomen. Statt Narzissmus verwendete er den Begriff Hochmut. Hochmut ist nach Augustinus „in sich selbst zurück gekrümmt“ zu sein.

Drei Merkmale des Narzissten

Narzissten zeichnen sich durch drei Merkmale aus. An erster Stelle steht die Selbstidealisierung: „Ich finde mich einfach total großartig. Ich habe eben ein gesundes Selbstwertgefühl.“ Alle eigenen Fehler werden ausgeblendet und verdrängt. Der zweite Aspekt ist die Fremdabwertung: Schuld können nur andere sein. Andere sind weniger würdig und dürfen daher runter gemacht werden. Im Alltagsnarzissmus, der uns täglich begegnet, ist es das Lästern über Abwesende. Die dritte Eigenschaft des Narzissten ist der Mangel an Selbsttranszendenz. Die Selbsttranszendenz bezeichnet die Orientierung am Wahren, Guten und Schönen – also Werte, die einen selbst übersteigen. Der Narzisst kann das nicht. Ihm ist nichts heilig, außer er selbst.

Gottes Umzug ins Ich – Neurose des modernen Menschen?

Niemand ist komplett frei von narzisstischen Neigungen. Wir alle haben narzisstische Anteile in unserer Persönlichkeit. Jeder hatte schon einmal hochmütige Gedanken. Jeder kennt das Gefühl, das man sich anderen gegenüber als etwas Besseres empfindet. Narzisstische Gedanken sind wie Unkraut. Einmal säen genügt nicht. Es wächst immer wieder nach. Demut ist eine Tugend, die man sich erarbeiten muss.

Menschen verlieren ihre Demut, wenn sie die Ehrfurcht vor einem transzendenten Wesen verlernen. Sigmund Freud schrieb in seinem Abriß der Psychoanalyse (1940), der Mensch sei durch seine Wissenschaft und Technik „beinahe selbst ein Gott geworden“. Der deutsche Autor Malte Nelles greift diese These in seinem Buch Gottes Umzug ins Ich (2023) auf. Während die Menschen noch vor hundert Jahren glaubten, ihr Schicksal werde durch „Gott“ bestimmt, halten sie heute ihr eigenes „Ich“ für den Allmächtigen. Der moderne Mensch glaubt, er sei absolut frei und selbstbestimmt. Damit ist er aber auch völlig losgelöst von der Sicherheit einer spirituellen Heimat. Der moderne Mensch vertraut nur noch der Allmacht seiner Wissenschaft. Er glaubt nur noch an sich selbst.

Der wissenschaftlich orientierte “Transhumanismus” verspicht, den Menschen für immer von Schmerz, Krankheit und einem frühen Tod zu erlösen. Wofür brauchen sie dann noch den Glauben an Gott? Statt eines jenseitigen Paradieses vertrauen wir auf unser diesseitiges Wohl.

Narzisstischer Zeitgeist

Doch der Siegeszug des modernen Lebens, so Nelles, wirft einen dunklen Schatten. Obwohl wir in der besten aller Welten leben mögen, gab es nie so viele Menschen, die an ihrem oberflächlichen Glück verzweifeln. Das moderne Ich leidet seelisch. Bereits Freud und Carl Gustav Jung machten diese Diagnose zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Menschen sind depressiv und im Stress. Sie fühlen sich innerlich getrieben. Denn nun sind sie der Schöpfer ihres Lebens. Sie sind Gott geworden:

„Der Glaube an den Menschen bringt die Überforderung mit sich, an der immer mehr Menschen scheitern. (…) Je stärker der Glaube an die Machbarkeit unserer Ansprüche und Wünsche ausufert, desto tiefer vollzieht sich der Fall in die deprimierende Einsicht, uns in unserem Spiel mit den Göttern zu verheben.“

Malte Nelles, Gottes Umzug ins Ich (2023), S. 31.

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein. Die tiefe Identitätskrise des modernen Menschen führt ihn regelmäßig in die psychotherapeutische Praxis. Dabei ist es nicht nur die persönliche Biographie, die einen Menschen in den Narzissmus treibt, sondern der gottlose Zeitgeist der Gegenwart.

Die alte Sehnsucht nach dem Himmelreich wurde ersetzt mit dem Streben nach menschlicher Größe. Der Zwang zur individuellen Selbstverwirklichung um jeden Preis macht uns innerlich leer. Der kollektive Anspruch der totalen Kontrolle über das Leben, die Gesundheit und sogar das globale Klima zerstört das soziale Miteinander. Das blinde Vertrauen in die Macht der Wissenschaft hat uns wieder abergläubisch gemacht. Mithilfe der Wissenschaft will der Transhumanist sich selbst überschreiten und Gott werden.

Von der Selbstverliebtheit zur Selbstfindung

Narzissten inszenieren eine Illusion ihres eigenen Ichs, verlieren sich aber dabei selbst. Wer sich wirklich selbst finden möchte, muss am Ende zugeben, dass sein Selbst unerreichbar bleibt. Nur Gott kann uns die Antwort auf die Frage nach unserer eigentlichen Identität geben. Schließlich kann kein Mensch sich seinen eigenen Körper, seine Geburt oder seinen Charakter schenken. Man kann lernen, mit dem zu leben, was einem geschenkt wurde. Aber ich erschaffe nicht, was wirklich wesentlich ist.

Um also sich selbst zu finden, muss man demütig werden. Demut ist der Kern der religiösen Erfahrung. Sie gründet in der Einsicht, dass es etwas Größeres gibt. Es gibt etwas, das uns Menschen übersteigt, das uns hervorgebracht hat, in dem wir leben und letztlich auch sterben. Demut schenkt uns die Freiheit, loszulassen, was außerhalb unserer Kontrolle ist. Sie nimmt uns den Stress, Gott spielen zu müssen.

Demut ist das Heilmittel gegen den Narzissmus des Zeitgeistes. Sie gibt uns die Gelassenheit der Kinder Gottes.

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