Narzissmus-Epidemie: Wohin steuert unsere Gesellschaft?

  • Redaktion
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Vermutlich ist ihm jeder schon einmal begegnet: Der überhebliche Widerling, der sich selbst für etwas Besseres hält und andere ständig runtermacht. Das ist der Narzisst, der nichts mehr liebt als sich selbst. Kommt es uns nur so vor oder wird unsere Gesellschaft tatsächlich immer narzisstischer? Hat die Kindheit einen Einfluss auf die Entwicklung einer narzisstischen Persönlichkeit?

Das unersättliche Ego

Viele Beobachter des aktuellen Zeitgeschehens meinen, wir würden in einer narzisstischen Gesellschaft leben. Vor 15 Jahren stellten die amerikanischen Psychologen Jean Twenge und Keith Campbell die gewagte These auf, wir würden von einer regelrechten „Narzissmus-Epidemie“ überschwemmt werden. Heute verwenden Hobby-Psychologen kaum einen Begriff so häufig wie Narzissmus.

Die Wahrheit ist: Irgendwo steckt in jedem von uns ein Narzisst. Schon vor 100 Jahren attestierte Sigmund Freud jedem Menschen einen „primären Narzissmus“. Der primäre Narzissmus beschreibt das Verhalten von Säuglingen. Diese sind komplett egoistisch. Ständig wollen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Und sie können und sollen auch nicht anders. Weil sie noch kein Selbstbewusstsein haben, nehmen sie keinen Unterschied zwischen sich selbst und der Mutter wahr. Sie bewegen sich nur im Bauchgefühl: sie spüren nur Lust oder Unlust, können sich aber nicht von ihren Begierden distanzieren oder ihr Verhalten reflektieren. Und für ein Baby ist das auch völlig in Ordnung.

Naturgemäß ist der primäre Narzissmus beim gesunden Menschen zeitlich begrenzt. Idealerweise wächst man mit der Zeit aus der Säuglingsphase heraus. Reife definiert sich dadurch, dass man sich selbst zurücknehmen und selbstlos handeln kann. Der Narzisst hingegen neigt dazu, sich wie ein erwachsenes Baby zu verhalten.

Was Freud als „sekundären Narzissmus“ bezeichnete, ist der Narzissmus im heutigen psychiatrischen Sinn. Narzissten stellen ihr eigenes Ego über andere. Sie brauchen ständig Bestätigung von außen, um ihre eigene Bedeutung aufzublähen.

Narzissten sind stark vom Streben nach sozialem Status motiviert. Stellen Sie sich den klassischen Mafioso in Palermo vor. Er besticht andere und „verdient“ somit sein Geld. Er ist hochgradig egoistisch, findet seinen Lebensstil aber kaum verbesserungswürdig. Am Sonntag spendet er dann in der Kirche öffentlichkeitswirksam einen großen Geldbetrag und lässt sich für seine Großzügigkeit bewundern. Soziale Stellung bedeutet dem Narzissten mehr als charakterliche Größe.

Die frühkindliche Prägung ist entscheidend

Dass Narzissmus als psychische Störung allgemein zunimmt, lässt sich kaum belegen. Was wir wissen, ist, dass die Art und Weise, wie sich Narzissmus äußert, stark vom gesellschaftlichen Umfeld abhängt. Daher spielt auch die frühkindliche Prägung eine entscheidende Rolle. In der Nachkriegszeit der 1950er Jahre war es normal, Kindern eine „Schwamm drüber, weiter geht’s“-Mentalität zu vermitteln. Emotionale Vernachlässigung führte in dieser Generation häufig zu ernsten Traumatisierungen. Das konnte die Entstehung von „grandiosem Narzissmus“ begünstigen, also die laute und protzige Selbstdarstellung.

In den 2000er Jahren stieg das gesellschaftliche Interesse an mentaler Gesundheit und Psychologie. Dieser Trend schlug sich auch im Erziehungsstil nieder. Jetzt versuchten Eltern, die Fehler ihrer Eltern zu überkompensieren. Das führte unwillentlich zum anderen Extrem und begünstigte Formen des Narzissmus, die uns heute typischerweise bei jungen Menschen begegnen. Hierzu zählen zum Beispiel ein ausgeprägtes Anspruchsdenken oder die übertriebene Betonung auf Selbstfürsorge, die an unverblümter Selbstsucht grenzt.

Unter dem Strich bedeutet das also: Sowohl Vernachlässigung als auch Überbehütung in der frühen Kindheit können zur Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeit beitragen.

Kleiner Bruder des Narzissmus: Der Perfektionismus

Während narzisstische Störungen schon lange die Therapeuten beschäftigt, beobachtet Dr. Raphael Bonelli, dass mehr und mehr Patienten von einem anderen Problem geplagt werden: dem Perfektionismus. Der Perfektionismus unterscheidet sich zwar vom Narzissmus, aber beide Neigungen sind eng miteinander verwandt. Narzissmus bedeutet Selbstaufwertung und Fremdabwertung. In anderen Worten: Der Narzisst kreist selbstverliebt nur um sich selbst. Perfektionismus hingegen beschreibt das ängstliche Kreisen um sich selbst.

Der Perfektionist ist von der Frage gequält, ob er gut genug sei, was die anderen wohl über ihn denken und wie er mehr Wertschätzung bekommen kann. Perfektionisten sind ständig darüber besorgt, wie andere sie wahrnehmen. Sie lechzen nach Anerkennung. Sie leben somit nicht mehr selbstbestimmt, sondern werden von der Angst um sich selbst gesteuert.

Leider wirkt der Perfektionismus ansteckend. Typischerweise fragt sich ein Perfektionist, „Wer ist besser, du oder ich? Dein Kind oder mein Kind? Deine Leistung oder meine Leistung?“. Der ängstliche Vergleich mit anderen führt dazu, dass Perfektionisten eine Fassade aufbauen. Am Ende führt aber der Zwang, ständig eine Show zu spielen, zu einem enormen psychischen Druck.

Obwohl manche Psychologen meinen, unsere Gesellschaft würde immer narzisstischer werden, lässt sich das so pauschal nicht belegen. Was sich feststellen lässt, ist, dass die Einstellungen heute individualistischer sind als früher, als die Gesellschaften noch stärker gemeinschaftlich geprägt waren. Elektronische Medien haben den Trend zur Individualisierung zusätzlich beschleunigt. Zwar können Digitalisierung und Smartphones nicht als Ursache für psychische Probleme gelten, aber sie können problematische Denk- und Verhaltensmuster verstärken.  

Hochmut kommt vor dem Fall

Was Narzissmus und Perfektionismus gemeinsam haben, ist das Kreisen um sich selbst. Bei Narzissten ist die Egozentrik von Selbstverliebtheit, bei Perfektionisten von Angst motiviert. Beide nehmen sich selbst zu wichtig. Dieses Problem ist aber nicht sonderlich neu. Im Gegenteil, seit Jahrtausenden wurde es in philosophischer und religiöser Sprache als „Hochmut“ bezeichnet.

Was uns die alten Traditionen lehren, ist, dass niemand vor Hochmut gefeit ist. Selbstsucht, Anmaßung und Arroganz betrifft uns alle. Das Heilmittel gegen Hochmut ist Demut, Selbsterkenntnis und Dankbarkeit. Mit diesem Perspektivenwechsel korrigieren wir unsere Sicht auf die Welt und damit unser Verhalten gegenüber anderen.

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Eigene Darstellung / Canva.
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