In den letzten Jahren haben sich westliche Gesellschaften zunehmend polarisiert. Der Ton in Politik und Medien wird schriller. Immer krassere Feindbilder werden geschürt. Menschen werden dämonisiert und „gecancelt“, also an der Teilnahme am öffentlichen Diskurs gehindert. Vielen wurde der Hass im Netz so viel, dass sie sich entschieden haben, ihr Leben zu beenden. Da stellt man sich schon die Frage: Wird unsere Gesellschaft immer herzloser? Leben wir in einer unbarmherzigen Zeit? Um menschlicher zu werden, müssen wir von Freuds Bild des Menschen als Maschine wegkommen.
Der Mensch als beseelter Körper
Die Vorstellung ist noch immer weit verbreitet, dass der Mensch lediglich eine biologische Maschine sei. Maschinen kann man programmieren. Sie sind Mittel zum Zweck. Wenn sie kaputt gehen, lässt man sie bei Ärzten und Psychotherapeuten reparieren. Dann sind sie wieder einsatzfähig.
Dr. Raphael Bonelli schlägt ein anderes Menschenbild vor. Er betrachtet den Menschen als freies, verantwortliches und potenziell herzliches Wesen. Er ist weder ein hormongesteuerter Roboter noch ist er eine Denkmaschine. Bonellis Modell der menschlichen Psyche geht stattdessen von drei Instanzen aus: Bauch, Kopf und Herz.
Mit diesen Bildern sind nicht die anatomischen Organe gemeint, sondern bestimmte Funktionen der menschlichen Psyche. Die „Bauchgefühle“ können dem limbischen Gehirn, einem sehr alten Teil des Gehirns, zugeordnet werden. Der „Kopf“ steht für das rationale, bewusste Denken. Dieses findet vorwiegend im Neokortex, also dem jüngsten Teil des Gehirns, statt. Aber die Psyche befindet sich nicht nur im Gehirn. Sie steht mit dem gesamten Körper in Resonanz.
Im Menschen ist alles miteinander verbunden. Zum Beispiel ist der Sehsinn nicht nur lokal im Auge zu finden, sondern er umfasst mehrere Gehirnareale. Dasselbe gilt für die seelischen Prozesse: Sie finden nicht nur in mehreren Gehirnregionen statt, sondern umfassen den gesamten Körper. Manche Neurowissenschaftler betrachten den Menschen als Gehirn plus Bewegungsapparat. Wenn sich zwei Menschen die Hand schütteln, berühren sich aber nicht zwei Hände, sondern zwei Menschen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, wie Aristoteles bereits wusste. Dementsprechend versteht Dr. Bonelli den Menschen primär als beseelten Körper.
Freuds Mechanik der Seele
Bonellis Bauch-Kopf-Herz-Modell ist zum Teil von Sigmund Freud inspiriert. Freud sprach von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Freuds Schwerpunkt war aber das „Es“, also metaphorisch gesprochen der „Bauch“. Er war ein großer Forscher des Bauches, weil es ihm um die schlummernden Gefühle und unbewussten Motive seiner Patienten ging.
Freud vertrat ein durchwegs mechanistisches Bild von der Seele. Er war von Chemie und Physik begeistert. Sein Ziel war es, den Menschen auf das Physikalische zu reduzieren. Aus diesem Grund finden sich auch so viele physikalische Begriffe in der Psychoanalyse wieder. Freud verwendete eine mechanisch-technische Sprache, um seelische Konflikte zu beschreiben. So sprach er zum Beispiel von Abwehrmechanismen, Verdrängung, Verschiebung oder Projektion.
Anfangs betrachtete Freud die Libido, oder die sexuelle Energie, als einziger Antrieb der Psyche. Später kam der Thanatos, also der Todestrieb, dazu. Die Vernunft spielte bei Freud eine regulierende Rolle. Was aber in seinem Modell der Psyche komplett fehlte, war das Herz.
Bauch und Kopf
In Bonellis Modell bezeichnen „Bauch“ und „Kopf“ zwei verschiedene Fähigkeiten, die Welt wahrzunehmen. Der Bauch spürt viel. Er agiert zum großen Teil unbewusst und irrational. Es gibt tatsächlich Menschen, die sich nur von ihren Emotionen steuern lassen. Freud verwendete dafür das Bild eines Reiters auf einem Pferd. Nur ist das Pferd so übermächtig, dass der Reiter eigentlich nichts tun kann. Das Pferd geht hin, wo es will. Und der Reiter sitzt drauf und tut so, als würde er es lenken.
Der Kopf verarbeitet die Wahrnehmung der Welt anders. Er spürt nichts, sondern reduziert die Wirklichkeit und versucht alles in ein rationales System zu bringen. Ein vernünftiger Mensch handelt nicht aus dem Bauch heraus, sondern befragt zunächst den Kopf. Er reflektiert darüber, wie er auf seine Gefühle reagieren solle.
Der Nachteil des Kopfes ist, dass er viel zu lange braucht, um Wahrnehmungen zu analysieren und zu berechnen. In echten Begegnungen spielt die nonverbale Kommunikation – also Gestik, Mimik, Körperhaltung, etc. – eine große Rolle. Die Bauchgefühle tragen dazu bei, ob wir jemandem vertrauen oder eben nicht. Dennoch müssen unsere Eindrücke und Vorurteile hinterfragt und reflektiert werden, um nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen zu gelangen. Nur weil mich jemand an meinen „bösen“ Mathelehrer erinnert, muss meine persönliche Assoziation nicht wahr sein.
So wichtig der Bauch und der Kopf sind, Bonelli betrachtet sie als Berater des Herzens. Letzten Endes geht es weder um unsere Gefühle noch um unsere Logik, sondern darum, aus dem Herzen heraus zu handeln.
Das Herz: Sinnorgan für das Wesentliche
Maschinen haben kein Herz. In Freuds Modell hatten Werte und freier Wille keinen Platz. Er sprach vom Menschen als „psychischen Apparat“. Der Mensch würde weitgehend vom „Es“ gesteuert. Somit gäbe es auch kein Gewissen. Ethische Richtlinien wüden dem Menschen vom „Über-Ich“, also von den Eltern und der Umgebung, aufoktroyiert.
Auch die Tugenden kümmerten Freud nicht. Das innere Heiligtum – also unser Sinn für das Wahre, Gute und Schöne – war für ihn irrelevant. Erst sein später Schüler Viktor Frankl entdeckte den Wert der Selbst-Transzendenz, also das Über-sich-selbst-hinausgehen-Können.
Zum Herzen gehört die Orientierung an höheren Werten. Die Kultivierung der Tugenden ist ebenso eine Sache des Herzens. „Man sieht nur mit dem Herzen gut…“ Der Spruch aus Antoine de Saint-Exupérys Klassiker Der kleine Prinz ist mittlerweile ein Klischee. Er ist aber trotzdem wahr: Jeder Mensch hat die Freiheit, seine Perspektive zu wechseln und das Wesentliche zu erkennen. Man kann sein Herz wie einen Muskel trainieren und stärken.
Wir sind also frei, an unserem Charakter und unseren Beziehungen zu arbeiten. Der Schlüssel dazu liegt uns näher als alles andere: im Herzen.