Freiheit oder Chemie? Was unser Gehirn steuert

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Der heutige Mensch scheint immer mehr mit seinem Smartphone zu verschmelzen. Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen einem Menschen und einer Reiz-Reaktions-Maschine? Für diesen Standpunkt wurden starke Argumente vorgelegt. Im Maschinen-Modell des Menschen ist die Willensfreiheit nur eine Illusion, ein Produkt unserer Hirnreaktionen. Lange Zeit war das die führende Meinung in der Neurowissenschaft. Mittlerweile wissen wir mehr. Aber: Freiheit hat seinen Preis.

Werden wir von „außen“ programmiert?

Wir sind nicht absolut frei. Die moderne Verhaltensforschung hat ergeben, dass die Freiheit des Menschen zweifach begrenzt ist. Unser Fühlen, Denken und Handeln wird einerseits durch die Umwelt, andererseits durch unsere Gene beeinflusst.

Wir werden maßgeblich von unserer natürlichen, sozialen und technologischen Umwelt geprägt. In der Verhaltensforschung spricht man von „Konditionierung“. Mittels instrumenteller Konditionierung können bestimmte Verhaltensmuster von Menschen durch angenehme oder unangenehme Konsequenzen gezielt verändert werden. Das nennt sich dann die Anwendung des Prinzips „Lernen durch Belohnung oder Bestrafung“ – oder sprichwörtlich „Zuckerbrot und Peitsche“.

Der amerikanische Psychologe und Behaviorist Burrhus F. Skinner forderte Anfang der 1970er Jahre, dass der Mensch mithilfe von „Verhaltenstechnologie“ auf das Gute hin programmiert werden solle. Doch selbst Skinner war sich bewusst, dass der Mensch nicht nur von außen gesteuert werden kann. Der Mensch kann nicht total konditioniert werden. Sein Verhalten ist nie völlig programmierbar. Auch wenn die Umwelt den Menschen zweifellos formt, so formt der Mensch seinerseits die Umwelt mithilfe des Willens.

Im Gegensatz zu den Behavioristen betonte die Schule der klassischen Verhaltensforschung nach Konrad Lorenz die Bedeutung der Erbanlage. Wie Tiere oder Menschen reagieren, handeln und interagieren wird demnach durch genetische Programme gesteuert. Aber auch die klassischen Verhaltensforscher gaben zu, dass weder die Gene noch die Umwelt die alleinigen Faktoren sind, die das Schicksal eines Menschen bestimmen. Doch angesichts der Rolle der äußeren Rahmenbedingungen ergab sich die Frage: Wieviel Freiheit bleibt dem Menschen?

Was die Neurowissenschaft früher sagte

In den 1970er Jahren wurde noch heftig debattiert, zu welchem Anteil der Mensch durch die Umwelt bzw. seine Gene „determiniert“ – also bestimmt oder gesteuert – wird. In den 1990er Jahren herrschte der Konsens, dass beide Faktoren gleichermaßen den ganzen Menschen bestimmen. Seit Anfang der 2000er wird die Willensfreiheit radikal infrage gestellt. Die maßgebliche Wissenschaft, in der diese weltanschauliche Position weit verbreitet ist, ist die Neurowissenschaft.

Durch neue bildgebende Verfahren, wie z. B. die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), konnten großartige Entdeckungen gemacht werden. Erstmals konnte genau gezeigt werden, welche Bewusstseinszustände mit welchen Hirnregionen zusammenhängen. Neurophysiologisch ist klar: Alle psychischen Vorgänge stehen in engster Verbindung mit den elektrochemischen Vorgängen zwischen den Nervenzellen im Gehirn.

Viele Neurowissenschaftler begannen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Je mehr man über das große Zusammenspiel der Nervenzellen verstand, desto mehr schien der Geist zu verschwinden. Die menschliche Willensfreiheit wurde somit als „Täuschung“ abgetan. Ein Wortführer dieses Standpunkts war der deutsche Philosoph und Hirnforscher Gerhard Roth. Roth meinte, das bewusste Ich sei „nicht der eigentliche Herr unserer Handlungen“. Die Empfindung unseres Ich als Verursacher unserer Gefühle, Gedanken und Entscheidungen sei eine offensichtliche „Illusion“. Absichten, die uns in den Sinn kommen, werden durch das sogenannte limbische System gesteuert. Diese Gehirnregion ist zugleich der Sitz der Motivation, des Gedächtnisses, der Emotionen sowie die unbewusste Regulierung der Nahrungsaufnahme, Verdauung und sexueller Reaktionen.

Sind wir am Ende also alle Opfer der Chemie in unserem Kopf? Die ethischen und strafrechtlichen Konsequenzen wären enorm. Verdient es ein Schwerverbrecher überhaupt bestraft zu werden? Wäre das nicht ungerecht angesichts der Tatsache, dass ein bestimmtes Areal in seinem Gehirn sein Handeln ausgelöst hat? Wer ist der Mensch, wenn am Ende nichts von ihm übrigbleibt als ein kalter, von Neuronen und Hormonen gesteuerter Bio-Automat?

Was die Neurowissenschaft heute sagt

Die physikalische Beschaffenheit der Pixel, aus denen dieser Satz besteht, sagt uns gar nichts über dessen Sinngehalt. Dasselbe gilt für Hirnphysiologie:  Neurowissenschaftler können die Physik und die Chemie des Gehirns erklären. „Aber niemand weiß bisher,“ so der deutsche Psychologe Wolfgang Prinz, „wie es zur Ich-Erfahrung kommt und wie das Gehirn überhaupt Bedeutungen hervorbringt.“

350 bis 400 Millisekunden bevor man bewusst eine Entscheidung trifft, lässt sich im Gehirn ein sogenanntes Bereitschaftspotenzial messen. Fälschlicherweise zog man daraus den Schluss, dass der freie Wille ein Produkt der Hirnphysiologie sei. Aber das Ich besitzt ein Vetorecht. Wenn uns bewusst geworden ist, dass wir in einer bestimmten Weise handeln können, heißt das also nicht, das wir es zwangsläufig müssen. Die Neurowissenschaft hat den freien Willen also nicht widerlegt.  

Dennoch, so der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer, haben Bewusstsein und Willensfreiheit eine neurologische Grundlage. Die Fähigkeit, unsere Verhaltensoptionen zu entwerfen, abzuwägen und zu beurteilen, ist im Stirnhirn (präfrontaler Cortex) verortet. Hier ist nicht nur das Ich repräsentiert, sondern auch die Beziehungen zu uns bedeutsamen Personen. Ein reifer, erwachsener Mensch hat die Fähigkeit zur Selbststeuerung erlernt. Das heißt nicht, dass er über alle äußeren Bedingungen erhaben ist. Aber er kann sich bewusst für seine Handlungen entscheiden, Konsequenzen einschätzen und sich seiner Verantwortung stellen.

Freiheit: Selbst- statt Fremdbestimmung

Trotz der fortschrittlichen Erklärungen über die Funktion des Gehirns, ändert das wenig an der uns allen vertrauten Eigenständigkeit der eigenen „Innenperspektive“. Wir alle nehmen es bewusst wahr, wenn wir mit einem anderen Menschen mitfühlen, uns verlieben oder mit unserem Gewissen hadern. Wir alle kennen den inneren Dialog, der sich in uns abspielt, um eine schwierige Entscheidung zu treffen. Dieser innere Prozess kann nicht durch Gehirn-Scans abgebildet werden.  

Es liegt an uns, ob wir selbstbestimmt statt fremdbestimmt leben möchten. Wir können uns ebenso gut unseren spontanen und hedonistischen Impulsen hingeben. Wir können uns in unseren Launen, äußeren Reizen, käuflichen Waren oder Suchtmittel verlieren. Wir können uns durch Werbung, Suchmaschinen und Propaganda manipulieren lassen. Aber dann geben wir unsere Freiheit ab und werden wir zu Konsum-Automaten im Dauerstress.

Die Alternative ist, dass wir auf Abstand zu unseren Emotionen und den Objekten der Umwelt gehen. Dieser Raum erlaubt uns, darüber zu reflektieren, was wir wirklich wollen. Das nennt sich dann Reife. Nur mit Selbststeuerung, also dem Handeln aus innerer Freiheit heraus, lässt sich ein authentisches und letztlich sinnerfülltes Leben führen.

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