Narzissmus und Social Media

  • Redaktion
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Wir sind alle anfällig für narzisstische Neigungen. Die ständige Selbstdarstellung auf Social Media bestärkt den eigenen Ego-Trip. Doch der Alltagsnarzissmus ist heimtückisch. Er macht uns unfrei und blockiert unseren Zugang zum Herzen. Damit wirkt er sich toxisch auf Beziehungen aus. Wie können wir uns vor der korrumpierenden Selbstverliebtheit schützen?  

Jeder ist anfällig für Narzissmus

Narzissmus besteht aus der klinischen Trias Selbstidealisierung (das Ich wird im Herzen angebetet und bewundert), Fremdabwertung (alle anderen werden verachtet und herabgewürdigt) und Selbstimmanenz (das Um-Sich-Selbst-Kreisen und nichts Höheres anerkennen).

Jeder trägt gewisse narzisstische Ansätze in sich. Um das Herz freizubekommen, müssen wir es zuerst von unserer versteckten Egozentrik reinigen. Die stille Selbstverliebtheit verstellt uns den Weg. Das ungeordnete Ego beschneidet die Freiheit, macht uns anfällig für Versuchungen und vor allem: blind für Werte. Es verdrängt mit der Zeit alle anderen Werte, die uns ein Herzensanliegen waren. Das Herz kann erfüllt sein vom Dienst am Guten – oder um das Ego kreisen.

Ego-Trips und Social Media

Die Befreiung vom Ich ist gerade in der heutigen Zeit nicht leicht, denn der Zeitgeist hat das Prinzip der Egozentrik unbewusst und indirekt zum Lebensziel für alle erhoben. Die Social Media-Kanäle strotzen geradezu vor Ichbezogenheit. Der Ego-Trip (des Bauches) ist zu einer Art Kulturgut geworden, das „Selfie“ seine Ikone.

Man kann es nicht oft genug sagen: in jedem von uns versteckt sich irgendwo ein Narzisst! Und zwar unausrottbar und ständig nachwuchernd, selbst wenn man dieses Unkraut durch Selbsterkenntnis und Läuterung unserer Absichten immer wieder auszureißen vermag. In der griechischen Mythologie gibt es ein schreckliches, vielköpfiges Ungeheuer namens Hydra. Ihre Köpfe wachsen nach, wenn man sie abschlägt. Und der größte Kopf in der Mitte ist sogar unsterblich. So ist unser versteckter, unsichtbarer Narzissmus: Man muss ihn aufdecken und gegen ihn ankämpfen – aber endgültig besiegt und vertrieben haben wir ihn nie, solange wir leben. Die Köpfe sprießen – in anderer Form und gewandelter Gestalt – immer wieder nach.

Die Hydra konfrontieren, das Herz aktivieren

Wenn wir es schaffen, den Narzissmus in uns klein zu halten, schaffen wir Platz in unserem Leben für Größeres. Durch diese Selbstreinigung aktivieren wir unser Herz und machen es fähig, das zu werden, was es sein kann. Wenn uns diese innere Hydra hingegen nicht bewusst wird, so ergreift sie schleichend die Macht: sie besetzt unseren Willen, korrumpiert unsere Werte, unterwandert unser Gewissen und verhindert unsere Bemühung um Tugendhaftigkeit. Damit blockiert sie jeden Zugang zum inneren Heiligtum. Der Mensch bleibt so weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Es ist entsetzlich, wie blind der Narzissmus für sich selbst macht: verdeckte Narzissten diagnostizieren in jedem und allen einen Narzissten – nur nicht bei sich selbst. Das ist typisch für den Narzissmus: er ist für sich selbst unsichtbar. Die Heilung besteht darin, den Mut zu haben, „sich selbst zu sehen, wie es der Wirklichkeit entspricht“ – das ist eine Definition des Philosophen Josef Pieper für die Demut. Narzissmus flieht die Demut wie der Teufel das Weihwasser.

Arroganz, Neid, Abwertung

Daran erkennt man die Hydra, den getarnten und hartnäckigen Narzissmus des Alltags, der uns alle quält und blockiert: Er weigert sich, irgendjemanden oder irgendetwas als überlegen zu akzeptieren. Ist jemand schön, fühlt sich der Narzisst in uns verunsichert und will schöner sein. Ist jemand klug, will der Narzisst klüger wirken. Ist jemand gut, will unser Narzisst unbewusst als besser gelten. Neid ist ein narzisstisches Kennzeichen und taugt zur kritischen Selbstdiagnose. Ein anderes Symptom von Jedermanns Narzissmus ist die Angewohnheit, über Abwesende schlecht zu sprechen. Diese Form der Fremdabwertung ist gesellschaftlich dermaßen verbreitet, dass sich mancherorts keiner als erstes von einem Treffen zu gehen getraut, weil er sonst zu Recht befürchten muss, dass danach hinter seinem Rücken über ihn gelästert wird.

Unser Alltagsnarzissmus tut sich schwer, die Goldene Regel zu verinnerlichen: er beansprucht mehr, als er zu geben bereit ist. Viele menschliche Beziehungen fangen wunderbar an, aber aufgrund dieses inneren und verborgenen Alltagsnarzissmus beider Seiten enden sie mit Schrecken.

Zur Ruhe kommen und innere Kraft tanken

Stellen Sie sich vor, es dreht sich nicht alles um Sie. Nehmen Sie sich regelmäßig bewusst eine Auszeit von der Selbstinszenierung auf Social Media. Dadurch verschaffen Sie sich neue Freiräume für eine neue Achtsamkeit. Verbinden Sie sich mit Ihrem Herzen. Reflektieren Sie darüber, wofür Sie dankbar sind. Verbringen Sie Zeit mit Ihrem Partner und Ihrer Familie. Geben Sie Ihren wahren Werten Raum zum Atmen. Damit halten Sie die innere Hydra in Schach und stärken Ihren Zugang zum Herzen.

Mehr dazu erfahren Sie in meinem neuen Buch Die Weisheit des Herzens – Wie wir werden, was wir sein wollen.

Bildquellen
Sofia Rotaru, https://unsplash.com/de/fotos/Oyt2boXuVSQ
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