Religiosität: Krankheit oder Ressource?

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Im Leben vieler Menschen ist Religion noch immer ein wichtiger Faktor. Andere wiederum können mit Religion gar nichts anfangen. Die Psychotherapie hatte ebenso ihre Probleme, Religiosität richtig einzuordnen. Psychiater und Psychotherapeuten sollen schließlich wertneutral vorgehen und den Patienten nicht ihre eigene Weltanschauung überstülpen. Ihr Auftrag besteht darin, Patienten zu unterstützen, zu sich selbst zu kommen und sich selbst zu entwickeln. Stört Religiosität die persönliche Entwicklung? Oder ist sie eine Ressource für mentale Heilung und Gesundheit?

Religion und Psychotherapie

Religion und Psychotherapie sind wie zwei Geschwister, die sich nicht sonderlich gut verstehen – und das seit über 100 Jahren, also seitdem Freud sich von Religion klar distanzierte. Für Freud war Religion nicht viel mehr als eine Illusion. Er hat sich selbst als philosophischer Materialist verstanden. Demnach gebe es nichts, was man nicht zählen, messen oder wiegen könne.

Dementsprechend war auch Freuds Menschenbild materialistisch. Er sprach von einem „psychischen Apparat“, das aus den Teilen Es, Ich und Über-Ich besteht. Auf dieser Grundlage versuchte er die seelischen Prozesse mittels physikalischer Begriffe zu beschreiben: Projektion, Verdrängung, Verschiebung, usw. Im Grunde leugnete Freud die Freiheit des Menschen. Doch damit stellt sich die Frage, was Psychotherapie eigentlich soll. Handelt es sich hier schlicht um eine neue Konditionierung des Menschen, so wie etwa die Dressur eines Tieres?

Von der Freiheit zur Selbst-Transzendenz

Heute wissen wir, dass der Mensch durchaus das Potenzial zur Freiheit hat. Einige Psychiater und Psychotherapeuten schrieben ganze Bücher über das Thema. Der Mensch ist fähig, sich selbst zu gestalten. Gerade hier spielt das Phänomen der Religiosität eine entscheidende Rolle. Offensichtlich hat der Mensch die Neigung, nicht in den eigenen Tiefen verweilen zu wollen, sondern nach oben zu blicken. In der Philosophie nennt man das, das Streben nach den Transzendentalien – also dem Schönen, dem Wahren und dem Guten. In der Psychologie spricht man von Selbst-Transzendenz. Das ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu übersteigen und das Höhere zu sehen.

Selbst-Transzendenz ist eine grundlegende Kompetenz, die andere Potenziale des Charakters erst ermöglicht. Hierzu gehört zum einen die innere Ordnung, also die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und klare Prioritäten zu setzen. Selbst-Transzendenz hilft uns, zu unseren Alltagssorgen Abstand zu gewinnen und unsere wahren Werte und Ziele zu reflektieren. Zum anderen erlaubt sie uns, auf andere Menschen zuzugehen und mit ihnen zu kooperieren. Nur die Selbst-Transzendenz ermöglicht uns, über unseren eigenen Tellerrand hinauszublicken.

Welche Stellung sollen Psychiater und Psychotherapeuten gegenüber Religiosität einnehmen? Sinnvoll wäre es, die Rolle eines staunenden Zusehers oder Entdeckers einzunehmen. Durch gezielte Fragen kann die religiöse Dimension offengelegt und ins Bewusstsein geholt werden. Der Psychiater und Psychotherapeut Viktor Frankl sprach vom „Unbewussten Gott“. Menschen können unbewusst religiös sein, ohne einen kognitiven Zugang zu diesem Aspekt zu haben. Psychotherapeutisch ist das relevant, weil wir heute wissen, dass Religiosität eine Ressource sein kann.

Bei Sigmund Freud galt Religiosität noch als Krankheit. Er sprach von einer kollektiven Zwangsneurose, die auf Einbildung basiert. Mittlerweile hat die große Mehrheit an klinischen Studien gezeigt, dass Religion der Psyche guttut. Religiosität hilft Menschen, schneller aus einer Depression zu kommen, sie schützt vor Süchten und sie reduziert insbesondere die Gefahr, Selbstmord zu begehen. Das ist bekannt und gilt heute eigentlich als unumstritten. Religiöse Menschen leben tendenziell länger.

Die Konsequenz aus diesem Wissen ist, dass wir uns dieser Ressource bewusster zuwenden müssen.

Therapeutischer Nutzen?

Statistisch gesehen sind religiöse Menschen glücklicher als Atheisten oder Agnostiker. Interessanterweise hilft die Orientierung auf ein ewiges Leben hin sich bereits im Hier und Jetzt wohler zu fühlen. Trotz allem haben natürlich auch religiöse Menschen ihre Probleme und kommen in die Therapie. Mithilfe ihrer Religiosität können sie ihre Probleme aber oft leichter und schneller bewältigen.

Religiosität wirkt aber nur dann gesundheitsfördernd, wenn sie von innen kommt. Das bedeutet logischerweise, dass man Religiosität niemals im Namen einer Therapie aufzwängen kann. Wenn jemand mit einer Alkoholsucht oder Depression zu einem Psychotherapeuten kommt, kann er nicht einfach „Religion“ als Medizin verschreiben. Es reicht nicht, einen Suchtkranken in eine Messe zu schicken, damit er geheilt wird. Eine ärztlich vorgeschriebene Religiosität ist unsinnig, weil sie nur von außen aufgesetzt wäre.

Es ist also durchaus sinnvoll zu klären, ob der Patient Religiosität als Ressource mitbringt. Handelt es sich um eine von innen motivierte Religiosität oder ist sie von außen aufgestülpt? Letzteres kann den Menschen tatsächlich blockieren, wie es bereits Freud vermutete. Eine von innen heraus gelebte Religiosität hingegen ist für die persönliche Entwicklung und die mentale Gesundheit förderlich.

Bildquellen
Ben White, https://unsplash.com/de/fotos/frau-betet-neben-baum-ReEqHw2GyeI
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