„Nur ich denk an mich!“ – Der krankhafte Ich-Bezug

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Männer neigen zu Narzissmus, Frauen zu Perfektionismus. Worin unterscheiden sich diese beiden Formen der Störung? Fördert der „Markt“ den Ich-Bezug und die Neigung zur Selbstverliebtheit? Und wie gelingt eine gesunde Form der Selbstfürsorge?

Freud: Alle Babys sind Narzissten!

Es kommt oft vor, dass erfolgreiche Menschen gerne über ihre Erfolge reden. Das macht sie jetzt nicht gleich zu Narzissten. Bei echten Narzissten spürt man, der Mensch ist nicht im Lot. Er gibt vor, mehr zu sein als er ist. Er macht sich selbst was vor. Er hat – mit Sigmund Freud gesprochen – eine „libidinöse Begeisterung“ von sich selbst.

Freud unterschied zwischen primärem und sekundärem Narzissmus. Primärer Narzissmus trifft auf Säuglinge zu. Sie denken nur an sich selbst. Alles dreht sich um sie. Strenggenommen ist das aber kein Narzissmus im Sinne einer Störung. Ein Baby verhält sich völlig normal, wenn es Hunger hat und schreit. Mit der Zeit entdeckt das Baby, dass hinter dem Busen eine Frau steht. Wenn es dann die Mutter als Person entdeckt, beginnt die Beziehung. Nach Freud wird die Libido dann auf die Mutter gelenkt. Später kommen der Vater, die Geschwister und andere dazu.

Der sekundäre Narzissmus tritt dann ein, wenn die Libido von anderen abgezogen und wieder auf sich selbst gerichtet wird. Das ist der eigentliche Narzissmus. Anders ausgedrückt: Narzissmus ist, wenn man die „Fähigkeit zum Du“ verliert.

Der amerikanische Psychiater Robert Cloninger definierte drei Dimensionen der psychischen Gesundheit: innere Ordnung (nach unten), Kooperationsfähigkeit mit dem Du (nach vorne) und Selbst-Transzendenz (nach oben). Das genaue Gegenteil des Narzissmus ist die Selbst-Transzendenz. Man geht über sich selbst hinaus, wenn man sich am Sinnvollen orientiert. Das ist eigentlich das Gesundheitsziel der Psychotherapie.

Perfektionismus: Der ängstliche Ich-Bezug

Narzissmus ist nicht das einzige Problem. Unsere Gesellschaft bewegt sich auch zunehmend in Richtung Perfektionismus. Perfektionisten kreisen auch ständig um sich selbst, aber in ängstlicher Weise. Viele Menschen meinen, sie müssen bluffen, weil sie sonst nicht geliebt oder anerkannt werden. Sie fragen sich ständig, wie komme ich bei anderen an? Wie bekomme ich mehr Wertschätzung? Was denkt der Chef von mir? Während Narzissmus eher Männer betrifft, sind Perfektionisten häufiger Frauen.

Perfektionismus wirkt ansteckend. Aktuell greift eine regelrechte Pandemie des Perfektionismus um sich. Wenn z. B. eine perfektionistische Mutter sagt, „Mein Kind ist das Beste in Mathematik!“, dann kriegen nicht nur die anderen perfektionistischen Mütter Stress, sondern auch die normalen.

Das Faszinierende am ängstlichen Ich-Bezug des Perfektionisten ist, dass sie von sich selbst glauben, sie seien extrem selbstlos, da sie nur um das Wohl anderer bemüht sind. Wenn man genauer hinsieht, wollen sie es anderen nur Recht machen, damit sie selbst mehr Lob und Wertschätzung erhalten.

Leider hören Perfektionisten in der Therapie häufig, dass sie mehr an sich selbst denken müssen. Das verschlimmert das Problem aber nur. Der Grund ist, dass Perfektionisten ohnehin zu viel an sich selbst denken. Sie gehen nur für den eigenen Selbstwert zur Arbeit, aber nicht aus Überzeugung oder um der Gesellschaft zu dienen. Wer aber nur noch vom Lob des Chefs abhängt, ist eher gefährdet, in ein Burnout zu schlittern.

Perfektionisten sind unfrei. Sie müssen sich verstellen und tragen eine Maske. Eine Maske zu tragen wird aber mit der Zeit anstrengend. Oft behandeln sie andere besser als nahestehende Familienmitglieder. Ein wahrhaft freier Mensch ist überall derselbe, ob draußen oder zuhause. Er ist authentisch. 

Gesellschaft ohne Gott

Der Markt reagiert auf unsere Bedürfnisse. Unsere Selbstverliebtheit wird durch Selfies, Social Media und Wohlfühl-Spiritualität gespiegelt und verstärkt. Wir sind eine Gesellschaft, die Gott verloren hat. In Europa verschwinden Religiosität und Selbst-Transzendenz in einem nie dagewesenen Ausmaß. Was den Nationalsozialisten und Kommunisten nicht gelungen ist, geschieht heute mit rasanter Geschwindigkeit: Immer mehr Menschen wachsen ohne jeglichen Bezug zu einem göttlichen Prinzip auf.

Ein Satz, der häufig vonseiten einer oberflächlichen Wohlfühl-Spiritualität geäußert wird, ist: „Ich muss mich um mich selbst kümmern.“ Es ist wichtig, das richtige Maß zu finden. Man soll sich nicht derart verausgaben, dass man unfähig ist, für andere da zu sein.

Das umgekehrte Extrem ist die Behauptung, man könne nur den Anderen lieben, wenn ich mich vorher selbst genug geliebt habe. So eine Haltung schadet aber der Beziehung. Nur Egozentriker würden so die Prioritäten setzen. Eine Beziehung ist immer im „Wir“. Oder wie es der jüdische Philosoph Martin Buber so schön formulierte: „Erst am Du wird der Mensch zum Ich.“

Geordnete Selbstfürsorge

Selbstverständlich gibt es Zeiten, wo es angebracht ist, sich zurückzuziehen und Kraft zu tanken. Vielen hilft Bewegung und frische Luft. Auch das Gebet kann eine Erholung vom Alltag sein. Gebet ist das Gespräch mit Gott oder dem „großen Du“ wie Buber ihn nannte. Zeit für sich selbst zu nehmen ist also nicht an sich schlecht. Die Frage ist, ob es sich hier um „geordnete“ oder „ungeordnete“ Selbstliebe handelt.

Der Schlüssel zum sinnvollen Leben besteht darin, die richtige Ordnung zu haben. Das bedeutet, nicht blind seinem Bauch zu gehorchen. Denn der Bauch ist kein guter Ratgeber. Was wirklich glücklich macht, ist die schenkende Liebe.

Das ist das paradoxe Prinzip der Glücksphilosophie: Glück kann man nicht absichtlich erlangen. Glück ist ein Nebenprodukt. Es kommt, wenn man das Richtige tut. Glücklich wird man, wenn man aus Liebe zu anderen, sich selbst auch mal vergessen kann.

Bildquellen
Sam Lion, https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-im-schwarzen-tragershirt-das-smartphone-halt-6001501/
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