Wie Digitalisierung uns langsam krank macht

  • Redaktion
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Wir leben in einer zunehmend künstlichen Welt. Geist und Körper des Menschen sind von diesem Trend massiv betroffen. Das herausragendste Beispiel dafür ist die Digitalisierung unserer Lebenswelt. Digitale Kommunikation ersetzt immer mehr den echten zwischenmenschlichen Austausch. Beeinträchtigt die Digitalisierung unsere mentale Gesundheit?

Digitale Depression

„Wegen Corona“ machte der Übergang in eine vollständig digitalisierte Gesellschaft einen großen Sprung nach vorne. Telekonferenzen wurden zur Norm. Das Studentenleben beschränkte sich auf Online-Plattformen. Der Kaffee mit Freunden wurde vor dem Bildschirm getrunken. Zunächst wurde dies als notwendige Sicherheitsmaßnahme und gelegentlich sogar als Vorteil gesehen. Die Menschen fühlten sich nicht nur vor der Pandemie geschützt. Sie sparten auch Zeit, vermieden Verkehrsstaus und verringerten ihren ökologischen Fußabdruck.

Andererseits beschleunigte der Fokus auf Online-Kontakte das Gefühl von Erschöpfung und Burnout. “Zoom-Müdigkeit” und “digitale Depression” wurden zunehmend verbreitete Symptome. Das zentrale Problem ist, dass die digitale Kommunikation echte Beziehungen niemals vollständig ersetzen kann. Ein echtes Gespräch ist nämlich mehr als nur der Austausch von Informationen. Es umfasst einen feinen, aber ebenso wichtigen körperlichen Austausch. Gerade dieser körperliche Aspekt kann digital nicht vollständig vermittelt werden. Für authentische Kommunikation ist er aber von entscheidender Bedeutung.

Sprache und Körperlichkeit

Am deutlichsten wird die Bedeutung der körperlichen Nähe bei der Entwicklung der Sprache im Säuglingsalter. Ein Baby braucht die Anwesenheit einer anderen Person, um zu lernen, wie man Sprachlaute unterscheidet. Durch die kreative Nachahmung der Laute und des Gesichtsausdrucks der Mutter geht das Kind eine Art Symbiose mit ihr ein. Es lernt auf diesem Weg nicht nur die äußere Ausdrucksweisen der Mutter. Auch die damit verbundenen Gefühle werden so erfahren und eingeübt.

Das Erlernen einer Sprache ist also ein Prozess der Verkörperung. Man kann sich den menschlichen Körper wie ein Saiteninstrument vorstellen. In der frühen Kindheit werden die Muskeln und Fasern des Körpers auf bestimmte Spannungen eingestimmt. Dieser Vorgang geschieht durch Nachahmung und Resonanz mit einem Gegenüber. Er beeinflusst, für welche Frequenzen man in seinem späteren Leben sensibel ist. Oder mit wem man “auf einer Wellenlänge” schwingt.

Diese subtile körperliche Dimension des sprachlichen Austauschs bleibt auch im Erwachsenenalter enorm wichtig. Ohne es zu merken, spiegeln Erwachsene wie Kinder ständig die Mimik und Körperhaltung ihres Gesprächspartners. Wenn Menschen miteinander sprechen, nehmen sie (oft unbewusst) die kleinsten Veränderungen bei ihrem Gegenüber wahr. Diese umfassen zum Beispiel die Betonung, die Klangfarbe der Stimme, Körperhaltung, Augenbewegungen, Sprechtempo, usw.

Der belgische Psychiater Mattias Desmet vergleicht daher Sprache mit Musik. Ein echtes Gespräch ist dementsprechend wie der Tanz von zwei oder mehr Menschen.

Entmenschlichung der Begegnung

Die Komplexität einer echten Begegnung geht durch die Digitalisierung verloren. Digitale Kommunikation findet immer mit einer gewissen Verzögerung statt. Sie lässt wichtige körperliche Signale außer Acht und läuft ständig Gefahr, unterbrochen oder ganz abgeschnitten zu werden. Gianpiero Petriglieri, ein Experte für Führung und Lernen am Arbeitsplatz, beschreibt die Problematik so: “Bei der digitalen Kommunikation wird unserem Verstand vorgegaukelt, dass wir zusammen sind. Aber unser Körper weiß, dass wir es nicht sind. Was an Online-Gesprächen so anstrengend ist, ist die ständige Anwesenheit der Abwesenheit der anderen Person.“

Die Digitalisierung „entmenschlicht“ ein Gespräch. In der Psychotherapie suchen die Patienten oft nach einem vollständigen Ausdruck ihres erlebten Dramas. Sie wollen in einem echten Gespräch von einem anderen Menschen gehört werden. Die Begeisterung eines Lehrers lässt sich elektronisch nur unvollkommen auf die Klasse übertragen. Romantische Beziehungen verwelken schnell, wenn sie sich auf Online-Kommunikation beschränken.

Digitale Gespräche sind schnell und bequem. Die Distanz zu anderen gibt uns auch ein psychologisches Gefühl der Kontrolle und Sicherheit. Dieser Komfort ist jedoch nur oberflächlich. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch: Unsere Begegnungen verlieren Tiefe, Resonanz und das Gefühl der Verbundenheit.

“Internet der Körper”?

Digitalisierung macht unsere Lebenswelt bequemer, aber auch künstlicher. Für Transhumanisten kann die Digitalisierung nicht weit genug gehen. Sie sehen die Zukunft der Menschheit in der Verschmelzung von Geist, Körper und Technologie. Transhumanisten wollen das Chaos der sozialen Beziehungen durch ein “Internet der Körper” ersetzen. Dazu sollen menschliche Körper mit Mikrochips ausgestattet und über ein 5G-Internetnetz überwacht werden. Das soziale Leben könne sich dann weitgehend online abspielen.

Was wie eine krude Verschwörungstheorie klingt, ist ein erklärtes Ziel der Transhumanisten. Wenn es nach ihnen geht, soll sich das soziale Leben weitgehend online abspielen – digital, sauber und „sicher“. In der Vision der Transhumanisten wäre dieser „digitale Kosmos“ ein perfektes Instrument für den modernen Staat. Geist und Körper eines jedes Menschen wären damit kontrollierbar. Verbrechen könnten verhindert werden, bevor sie begangen werden. Die ständige Erfassung biometrischer Daten könnte sogar frühzeitig medizinische Eingriffe ermöglichen. Die Utopie einer “schönen neuen Welt” würde endlich wahr werden.

Die Gesellschaft könnte theoretisch in ein hocheffizientes Netzwerk von Maschinen-Gehirnen verwandelt werden. Doch wie bei jeder technischen Erfindung hat der versprochene Vorteil seinen Preis. Die Frage bleibt: Wenn digitale Netzwerke alles können, wozu brauchen wir dann noch echte Beziehungen? Zum Glück gibt es ein Gegenmittel zur transhumanistischen Vision: Begegnung, Gespräche, Lachen, Musik und Tanz – nicht mit Maschinen, sondern mit echten Menschen.

Bildquellen
cottonbro studio, https://www.pexels.com/de-de/foto/menschen-smartphone-verbindung-sucht-8088493/
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